In dem Buch The Anxiety of Influence (1973) unterstellt der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom den Schriftstellern eine Einflussangst – die Angst, bei der Entfaltung eigener Schöpfungskraft sich dem literarischen Einfluss (über)mächtiger Vorläufer nicht entziehen zu können. In dieser Sichtweise werden dichterische Werke als Re-Visionen anderer Dichtung gedeutet: Im Spannungsfeld zwischen inspirierender und bedrohlicher Abhängigkeit von der verkörperten literarischen Tradition und eigener Kreativität entstehen Texte, mit denen Nachfolger ihre Originalität zu beweisen und zu schützen versuchen.

Die prägnante Bezeichnung von Bloom sollte als ein metaphorischer Impuls für eine Untersuchung der österreichischen Gegenwartsliteratur unter dem Gesichtspunkt dienen, wie sie sich diese nun konkret mit der Tradition auseinandersetzt. Die Metapher scheint dabei umso produktiver zu sein, als das von Bloom diagnostizierte Phänomen der Einflussangst sich für die neueste Literatur geradezu umkehren lässt: Da man in der neuesten literarischen Produktion eine Reihe von Beispielen für eine ausschweifende Bezugnahme auf Texte von künstlerisch bedeutenden ‚(Groß)Väter-’ und ‚(Groß)Mütterfiguren’ vorfindet, kann viel weniger von einer Einflussangst die Rede sein als von einer unbändigen Einflusslust.

Die Tagung will der Geschichte eines gefürchteten oder aber auch eines fruchtbaren poetischen Einflusses, also der Einflussangst und Einflusslust, nachspüren und an einzelnen Beispielen aufzeigen, wie Schriftsteller unterschiedlicher intellektueller und ästhetischer Provenienz in ihrem Schaffen auf diverse Facetten der spezifisch österreichischen literarischen Tradition reagieren und zurückgreifen. Durch eine stringente Fokussierung der Einzelanalysen auf die konkreten Auswirkungen von breit umfasster Tradition auf Neuentwürfe in der Ästhetik und Poetologie sowie auf die inhaltliche Füllung der Werke soll das möglichst dichteste Bild eines komplexen Phänomens umrissen werden.